Behördennetzwerk? Was hängt mit wem zusammen?

Mitte 2007

Die Eltern haben ein älteres Kind, das seelisch behindert ist: Das ergibt ein mehrmonatiger Aufenthalt in einem Fachkrankenhaus. Seit fast einem Jahr wird das Kind nicht mehr beschult, weil unklar war, was hinter den ständigen Problemen mit anderen Mitschülern steckt und weil die Probleme heftig waren. Jetzt herrscht allerdings Klarheit, worum es geht:

Asperger Syndrom.

Daher beantragen sie beim Jugendamt Unterstützung, die ihnen zusteht bei der vorliegenden Diagnose. Sie möchten eine Beschulung sicher stellen, da das Kind sehr begabt ist. Sie möchten, dass eine ambulante Therapie bewilligt wird; so wurde es vom Krankenhaus dringend empfohlen, weil das Kind sonst wegen seiner Aggressionsattacken dauerhaft weggesperrt werden müsste.

Das wäre dann auf Kosten der Krankenkasse.

Zugegeben eine schwierige Diagnose. Aber in diesem Fall aus Sicht der Klinik „100 prozentig und ohne Zweifel“.

Die Sachbearbeiterin beim Jugendamt sagt zu, den Antrag der Eltern zu unterstützen, zumal auch der Familienbetreuer bestätigt, dass schnelle Hilfe dringend erfolgen muss, denn die Situation zuhause spitzt sich allmählich zu, weil der Junge 24 Stunden am Tag unbeschäftigt ist; mehrere kleine Geschwister verlangen von der Mutter und dem Vater ebenfalls Aufmerksamkeit, Kraft und Zeit.

Das Kind müsste eventuell dauerhaft in der Psychiatrie weggesperrt werden, wenn nicht bald eine strukturierende und begleitende Hilfe ermöglicht wird.

Das Jugendamt sieht eine Kostenwelle auf sich zukommen. Das macht nachdenklich.

Für den Schulbesuch ist das Schulamt zuständig. Gut dass man das nicht entscheiden muss.
Dann also muss der „Gutachter“ des Schulamtes ran. Der ist Psychologe und hat den Doktor-Titel und will nächstes Jahr in Rente gehen. Oder soll, das ist unklar.

Auf jeden Fall will das Jugendamt die Entscheidung des „Gutachters“ abwarten, bevor es selber entscheidet.

Er kennt den Jungen nicht, nur aus einigen Minuten Kontakt. Er hat die Informationen der Eltern; den Entlassungsbericht des Krankenhauses, die Aussage des Familienbetreuers.

Im gemeinsamen Gespräch mit den Eltern ergibt sich, dass sowohl die Sachbearbeiterin des Jugendamtes wie auch der „Gutachter“ des Schulamtes die Diagnose, den Antrag der Eltern und die sich daraus ergebenden Folgen unterstützen werden. Der Gutachter redet kaum über den Jungen; vielmehr erweist er sich als unterhaltender Gesprächsteilnehmer mit der Tendenz zu Geschichten von früher und teils kompromittierenden Allgemeineinschätzungen bzgl. Klinikmitarbeitern.

Eine Bekannte der Mutter kennt den „Gutachter“ und berichtet, der habe ein massives Alkoholproblem und sei im Bekannten- und Verwandtenkreis dafür bekannt, mit seiner Berufsrolle anzugeben und werde als arrogant beschrieben.

In einem anderen Fall hatte die Sachbearbeiterin des Jugendamtes Schwierigkeiten, bei ihrer Vorgesetzten eine zugesagte Maßnahme durch zu bringen. Es muss zu Auseinandersetzungen gekommen sein. Die Eltern waren erzürnt deswegen.

Die Verfassung eines Gutachtens des Schulamtes gelingt über Monate nicht.

Die Entscheidung des Jugendamtes bzgl. einer ambulanten Therapie bleibt über Monate aus.

Das neue Jahr ist bereits am Ende des ersten Quartals. Noch immer ist nichts entschieden.

Mittlerweile vertritt der „Gutachter“ die Ansicht, es geben keine Diagnose „Asperger Syndrom“; solche Diagnosen müsse man immer in Zweifel ziehen. Vor allem, wenn sie aus diesem Krankenhaus kommen; vor allem, wenn sie von der bestimmten Person diagnostiziert werden.

Entgegen seiner Zusage, den Antrag zu unterstützen, sagt er aus, es liege kein Asperger Syndrom vor.
Er hat den Jungen aber immer noch nicht untersucht.
Er erklärt nun, alle Probleme des Jungen seien direkte und einzige Folge der Erziehungsfehler der Eltern. Er führt nun alte ärztliche Untersuchungen an, in denen von Asperger Syndrom nicht die Rede ist. Ging auch nicht, weil es den Diagnosebegriff zu dem Zeitpunkt noch nicht gab und der Untersuchungsauftrag ganz anders lautete.

Die Sachbearbeiterin des Jugendamtes zweifelt im Neuen Jahr nun auch an, ob es sich um ein Asperger Syndrom handeln könne. Sie habe sich eingelesen und sehe es nun so, dass die Problematik des Jungen in wichtigen Punkten gar nicht die eines Aspergers sei.

Eine Entscheidung soll zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfinden. Aber da hat der Gutachter sein Gutachten noch nicht fertig, obwohl er es ausdrücklich zugesagt hatte.

Also „kann“ auch das Jugenamt wieder nicht entscheiden….

Die begutachtenden Lehrerinnen einer Förderschule, die für das Schulamt tätig werden, um einen Beschulungsvorschlag zu machen, beeilen sich, ihr Schulgutachten fertig zu stellen. Sie gehen von einem Asperger Syndrom aus, weil die Aussage des Krankenhauses da eindeutig ist und schlagen eine vorübergehende Beschulung des Kindes in ihrer Schule vor. Sie sehen als wichtig an, dass die Beschulung so bald wie möglich beginnen kann, da das Kind gefordert und gefördert werden muss.

Der entscheidende Tag kommt: Die Fachkonferenz des Jugendamtes findet statt und entscheidet auch.
Die Eltern warten auf Nachricht. Die kommt nicht. Also telefoniert der Familienhelfer hinterher. Die Sachbearbeiterin berichtet etwas kurz und verunsichert: Ein Schulbegleiter sei wohl doch bewilligt worden (was sich als falsch heraus stellt). Alles weiter könne sie nicht beantworten. Sie verweist auf ihre direkte Vorgesetzte, die ab nun Auskunft geben werde; sie verweist auf noch höhere Stellen, die dann den schriftlichen Bescheid verfassen werden.

Ein weiterer Anruf dort: Der Antrag der Eltern ist vollständig abgelehnt worden. Keine weiteren Erläuterungen.

Das Schulamt hat immer noch nicht entschieden. Eine weitere Untersuchung beim Gesundheitsamt sei notwendig. Das ist in ein paar Wochen.

Das Kind ist immer noch zu Hause. Fast einmal täglich kommt es zu heftigen Gewalteskalationen; die Mutter mit den kleinen Kindern ist am Rand ihrer Möglichkeiten, die Problematik des älteren Kindes beherrscht mittlerweile das Denken und Handeln Aller im Alltag. Eine Schwester leidet sehr unter der Situation und beginnt, „gestörte Verhaltensweisen“ zu entwickeln.

Es hängt eben immer mit den Zusammenhängen zusammen.

Wieder ist ein neues Jahr ins Land gezogen.Mit Hilfe einer guten Anwältin kam etwas Bewegung in die Angelegenheit. Hilfreich war, dass diese Jemanden aus der Höheren Etage der Stadtverwaltung kennt. Nun ist das Kind – nach einem Verzögerungszeitraum von fast eineinhalb Jahren in einer einrichtung untergekommen, in der man auf solche Fälle eingestellt ist. Dort wird Wohnen, Alltagsgestaltung und schulische und berufliche  Förderung aus einer Hand angeboten. Es klappt ganz gut dort, obwohl die Persönlichkeitsstörung immer noch für Schwierigkeiten sorgt.

Diese Hilfe ist gut. Sie hätte sofort gegeben werden können und müssen. Zumal eine gesetzliche Verpflichtung besteht, über solche Fälle innehalb einiger Wochen zu entscheiden.

Viel wertvolle Zeit ging verloren, in der Möglichkeiten der schulischen Bildung und vor allem die Einbindung der schwierigen Persönlichkeit in ein stabilisierendes Umfeld aus blieb.

Über Ruedi

Zusammenhänge machen mich neugierig. Da immer alles mit den Zusammenhängen zusammen hängt, kann man nichts losgelöst betrachten. Ich bin über 50 Jahre alt, Großvater, Vater und Ehemann und freue mich darauf, neue Denkweisen kennen zu lernen und Neues aus zu probieren - wie z.B., eine gewisse Öffentlichkeit im Internet zuzulassen, von der ich weiß, dass ich sie nicht mehr zurück nehmen kann. Puh!
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